Tlatelolco
Wenn der Touristenbus in Mexiko-Stadt den Plaza de las tres Culturas passiert, ist der Fremdenführer gefordert. Der Platz im Zentrum des Viertels Tlatelolco-Nonoalco ist ein veritables Epizentrum mexikanischer Geschichtsschreibung: Hierhin zogen sich die Azteken unter Cuauhtémoc vor ihrer endgültigen Niederlage gegen die spanischen Eroberer 1521 zurück; hier wurde am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko, eine Studentendemonstration blutig niedergeschlagen; und 1985 ließ ein verheerendes Erdbeben in unmittelbarer Umgebung Hochhäuser einstürzen. Die letzten beiden Ereignisse werden der Filmemacherin Lotte Schreiber zu entscheidenden historischen Markierungen in diesem Video, das sich sonst vor allem ins Räumliche erstreckt. Statt auf die Denkmäler und Repräsentationsarchitekturen der Plaza fokussiert Tlatelolco auf die benachbarten Wohnhochhäuser: Unidad Habitacional Nonoalco-Tlatelolco, errichtet in den Sechziger Jahren unter der Leitung des Modernisten Mario Pani, ist der größte Apartmentkomplex in Mexiko-Stadt. Realisiert am Zenit von Mexikos Wirtschaftsboom, hat Panis Vision vom Hochhaus als einer klassenübergreifenden „vertikalen Stadt“ selbst einige Erschütterungen hinter sich.
Das Verblassen einer städtebaulichen Utopie fangen Schreiber und Kameramann Johannes Hammel in einer Hundertschaft materieller Details des Abblätterns, Verwitterns und notgedrungenen Improvisierens ein. Die präzisen Kadrierungen halten dennoch die Faszinationskraft der wuchtig-funktionalen Architektur präsent. Ähnlich rücken die Portraits einzelner EinwohnerInnen nicht nur harsche Lebensverhältnisse ins Bild, sondern auch Praktiken der Aneignung, die Panis Vorstellungen abseits des Monumentalen weitertragen: Ältere Damen wie jugendliche Muskelprotze erturnen sich historischen Boden, im Hof improvisieren Nachbarn ein Filmscreening.
(Joachim Schätz)
Tlatelolco
2011
Österreich, Mexiko
75 min