Domino
"Wenn man aus einem Ort bestimmte Assoziationen herauslöst, wenn man sich unmittelbar mit seiner visuellen Erscheinung befaßt, mit dem, was Roland Barthes das "Simulakrum des Objekts" nennt, so ist das Ziel, eine neue Art von Bauten als eine Gesamtheit zu verstehen, die neue Bedeutungen erzeugt." (Robert Smithson)
"Domino" bezeichnet ein Konstruktionssystem aus Stahlbeton das 1914 von Le Corbusier entwickelte wurde. Diese Bauform revolutionierte die Architektur der Moderne, da die Wände von ihrer tragenden Funktion befreit wurden und sich dadurch völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten auftaten.
Die Medienkünstlerin Lotte Schreiber begab sich für dieses Projekt auf eine winterliche Reise durch Griechenland um anonyme Architekturen, jene dort häufig anzutreffenden Betonskelette filmisch aufzuzeichnen. In kargen Berg- und Küstenlandschaften findet sie diese unvollendeten, als Wohnhäuser oder Hotelanlagen konzipierten Raumfragmente, die sich als geometrische Fremdkörper in die mediterrane Umgebung einschreiben.
Sie nutzt mittels streng kadrierter Schwarzweissaufnahmen diese "primären Strukturen" als Rahmen und geografisches Bezugssystem für die umliegende Landschaft. Während die Betonkuben systematisch auf Super 8 Film abgetastet werden, dokumentierte Schreiber die Autofahrt rund um den Peloponnes und auf der Insel Kreta mit einer Digitalvideokamera. In der metrischen Montage lässt sie die filmischen Materialien aufeinander treffen und konstruiert eine exakte zeitliche Struktur. Während bei den stakkato-artig geschnittenen Videosequenzen der O-Ton zu hören ist, sind die Filmaufnahmen mit elektronischen Sounds von Stefan Németh unterlegt.
Dieses außergewöhnliche "Roadmovie" ist der dritte Teil einer Versuchsreihe von Lotte Schreiber zur Erstellung von "filmischen Kartografien". (Norbert Pfaffenbichler)
Die Gesichter in den Falten von Gebäuden, Der Standard 13.11.2015 (Artikel)
BERT REBHANDL
Der Standard, 13. November 2015
Die Filme von Sasha Pirker und Lotte Schreiber bringen Architektur zum Sprechen – und treten mit ihr in Dialog. Einige davon präsentieren die Regisseurinnen demnächst unter dem Titel "Film Talks" im Mumok Wien – Ein offenes Fenster, ein Vorhang weht sanft im Luftzug; eine Stimme aus dem Off spricht darüber, wie man "sich selbst in einem Raum wahrnimmt": Das sind die wesentlichen Komponenten von Sasha Pirkers Film identical. Die Pointe am Ende der vier Minuten: Der Vorhang wird nach innen geweht und gibt so den Blick frei auf ein Gebäude auf dem Gelände der Chinati Foundation in Marfa, Texas.
Dort hat der Künstler Donald Judd einen Raum für Arbeiten von sich und geschätzten Kollegen geschaffen. Und dort war Sasha Pirker 2013 Artist in Residence. Spuren dieses Aufenthalts tauchen mehrfach in ihrem Werk auf, das sich mit den Beziehungen zwischen realem und filmischem Raum, zwischen politischem Gestaltungswillen und der "Sprache" von Gebäuden befasst.
Entzifferte Utopien
Ihre vielleicht bekannteste Arbeit heißt The Future Will Not Be Capitalist. Eine Parole, die so gar nicht zu Pirkers ruhiger "Entzifferung" der Zentrale der Kommunistischen Partei in Frankreich passen will, die Oscar Niemeyer in den späten 1960er-Jahren entwarf. Die Regisseurin spürt dabei den Geist der Utopie in einer Architektur auf, die durchaus deklamatorisch ist, ohne dass der Film selbst sich zu Ausrufezeichen hinreißen ließe.
Wer "spricht", wenn wir uns die Grenzen zwischen Räumen bewusst machen? Diese Frage schwingt auch im Titel jenes Abends mit, den das Mumok den beiden Filmemacherinnen Sasha Pirker und Lotte Schreiber widmet: Film Talks. Gesprochen wird dabei über Filme, die ihrerseits sprechen, sei es über Stimmen oder durch eine Kameraarbeit, die zum Sprechen bringt, was, etwa in Lotte Schreibers Domino, als tote Materie in der Gegend herumsteht: verwitterte Betonskelette in Griechenland, die noch poröser wirken in ruckartig schwankenden Bildern. Das Medium wird zur Außenhaut der Gebäude, einer Haut, die allerdings nicht eng anliegt, sondern Falten wirft und sich in Schwingungen versetzen lässt.
2015 haben Pirker und Schreiber gemeinsam einen Film gemacht – und dafür auf der Diagonale gleich den großen "Preis Innovatives Kino" bekommen: Exhibition Talks heißt ihre Erkundung eines schlanken, hohen Innsbrucker Baus Lois Welzenbachers aus den 1920er-Jahren, der lange Jahre eine Brauerei beherbergte. Heute gibt es dort einen Kunstraum, zu dessen Besonderheiten zählt, dass die hohen Bergketten um die Stadt ganz nahe zu sein scheinen.
"Alles ist öffenbar"
Auch in diesem Film wird in mehreren Hinsichten gesprochen: Die Räume werden zugleich von einer Off-Stimme und von den Bildern erläutert, die sich am manchmal beflissenen Tonfall der "Ausstellungsrede" ("alles ist öffenbar", "wir sind gewohnt, da reinzugehen" ...) zu reiben scheinen.
Offen ist auch das Programm Film Talks - kuratiert von Madeleine Bernstorff und den Filmemacherinnen – u. a. dank eines Gastbeitrags von Christian Ruschitzka (Höhenrausch, 2015). Zudem heißt es in der Ankündigung, dass "vielleicht noch der eine oder andere" weitere Film gezeigt werden könnte. Deutlich wird solche Offenheit schließlich auch in Pirkers kurzer Arbeit The Face, einer weiteren Architekturbeobachtung.
1993 gestalteten Vito Acconci und Steven Holler die Fassade der New Yorker Galerie Storefront for Art and Architecture. Bei Pirker bekommt diese – den Bildern nach kleine – Einlassung in ein Gebäude ein "Gesicht", kommuniziert. Die Regisseurin verzichtet dabei auf einen Text aus dem Off, stellt lediglich ein Zitat der Künstlerin Birgit Baldasti voraus, in dem von einer Fantasie die Rede ist, die sich "durch den anderen" vervollkommnen lässt. Auch dies wiederum ein Motiv, das sich in der Weise wiedererkennen lässt, in der Pirker und Schreiber das Medium Film benützen.
Zeichen hinter Jalousien
Man geht wohl nicht zu weit, wenn man mutmaßt, dass die Kunstsammlung, die Lotte Schreiber in evn collection – a kind of portrait, zeigt, in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den in jeder Hinsicht offenen Raumkonzeptionen steht, die in Film Talks zu sehen sein werden: Die Arbeiten zahlreicher bedeutender Gegenwartskünstler wirken in der gedämpften Atmosphäre des Energieanbieter-Firmensitzes wie stumme Zeichen einer anderen Ökonomie, wobei Cerith Wyn Evans mit seiner auf den Situationismus bezogenen, leuchtend roten Neonarbeit In Girum Imus Nocte et Consumimur Igni (dt. Wir schweifen des Nachts im Kreis umher und verzehren uns im Feuer) vielleicht den bissigsten Beitrag zu dieser mehrfach ambivalenten, repräsentierenden Kollektion beisteuert. Schreiber filmt sie zunächst durch Jalousien hindurch, denn auch für dieses "Porträt" gilt: Ihr Gesicht zeigen Gebäude und Institutionen nicht frontal, sondern in den Falten, die zwischen den Räumen entstehen. (Bert Rebhandl, Spezial, 13.11.2015)
derstandard.at/2000025610371/Die-Gesichter-in-den-Falten-von-Gebaeuden
Domino
2005
Österreich
12 min