1+8
Was an diesem Film als Erstes auffällt, ist seine bemerkenswerte formale Stringenz. Bereits der Titel lässt auf eine mathematische Form der Annäherung schließen, und tatsächlich folgen Cynthia Madansky und Angelika Brudniak in ihrem ersten langen Dokumentarfilm einer exakt geplanten Dramaturgie. Bei ihrer Rundreise entlang der türkischen Grenze haben die beiden Filmemacherinnen nicht nur türkische Grenzstädte zu allen acht Nachbarstaaten besucht, sondern auch deren jeweiliges Gegenüber: Es sind scheinbar unbedeutende Städte oder gar Bergdörfer in Anatolien, an der Schwarzmeerküste oder am Balkan, zwischen denen Grenzen verlaufen, die unmittelbar das Leben der Menschen bestimmen, sie trennen und dennoch als zusammengehörig erscheinen lassen.
Ausgangspunkt der außergewöhnlichen Reise sind die Städte Nusaybin im Südosten sowie ihr syrisches Gegenüber Al-Quamishli, und bereits hier zeigt sich jene präzise Beobachtung von sozialen und politischen Verhältnissen, die auch für den weiteren Verlauf des Films wesentlich ist. In beiden historisch willkürlich voneinander getrennten Städten leben hauptsächlich Kurden, doch während in der Türkei ein Widerstandsgeist gegen die staatliche Obrigkeit herrscht, der von Schulkindern ebenso lautstark vorgebracht wird wie bei Demonstrationen für Abdullah Öcalan, regieren auf syrischer Seite Angst und Schrecken vor dem Regime Assads. Dominiert die Frage nach kurdischer Identität auch die Episoden an den Grenzen zu Irak und Iran – wo die wenigen Minuten Schwarzfilm die Schilderung von Unterdrückung umso anschaulicher machen –, wird etwa in Georgien oder Armenien ersichtlich, wie die kommunistische Vergangenheit nach wie vor die Gegenwart der Menschen bestimmt.
An jedem der insgesamt sechzehn Schauplätze zeigen die Filmemacherinnen aber nicht nur Alltag und Arbeit der Menschen, sondern formen sie aus den zahlreichen Erzählungen, die ihnen im Lauf ihrer Reise zugetragen werden, eine weitere, nicht minder spannende – eine Geschichte, die von der Gegenwart erzählt. Dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, wusste bereits Aristoteles, und so ist es doppelt stimmig, dass 1+8, dessen Gesamtwert ebenfalls weit über seine acht Episoden hinausreicht, in Griechenland endet.
(Michael Pekler)
1+8
2012
Österreich, USA
131 min
Dokumentarfilm
Verschiedene
Englisch