Un solo colore
"Ich suche Zuflucht beim Herrn der Morgendämmerung", steht in arabischer Schrift auf dem Schiff, das zu Filmbeginn schief im Hafen lehnt. Was heißt Zuflucht? Rettung des nackten Lebens vor Verfolgung und dem Tod im Mittelmeer? Eine korrekte Unterbringung, Erfassung und Ermittlung der Asylansprüche? Im kalabrischen Hinterland haben Giusi und Rosario einen "Ort der Ankunft" eingerichtet, der über Minimalverpflichtungen hinausgeht: Statt in einem zentralisierten Auffanglager werden derzeit 76 Asylwerbende in den vielen leerstehenden Wohnungen des Dorfs Camini untergebracht. Statt ihre Zeit mit Warten zu fristen, können die Angekommenen im Rahmen des Projekts in der brachliegenden örtlichen Agrarwirtschaft mitarbeiten.
Joerg Burger erkundet diese Verschränkung von humanitärer Hilfe und Ortsbelebung mit Neugier und unsentimentalem Respekt vor allen Involvierten. In den gespenstisch stillen Gassen und verfallenen Hausfronten von Camini findet er Spuren einer Kontinuität von Migrationsbewegungen: In der Nachkriegszeit setzte die Wirtschaftsflucht weg aus dem armen italienischen Süden nach Turin, Deutschland, Argentinien ein. Damals bekannte Begleiterscheinungen wie Auswanderer-Depression und Magengeschwür sind älteren Einwohnern noch bekannt. Von ähnlichen Symptomen bei den neuen Gästen ist später im Einschulungsgespräch einer Projektmitarbeiterin die Rede.
Vor allem aber entwickelt Un solo colore am Best-Practice-Beispiel von Camini einige triftige Fragen zur Aufnahmepolitik Europas, die über die Notwendigkeiten schieren Überlebens hinausgehen. Neben dem projektleitenden Paar kommen vor allem die Asylwerbenden selbst zu Wort – nicht als dankbare Kinder, sondern als Subjekte, von denen bei aller ausdrücklichen Wertschätzung viele morgen lieber anderswo wären als zwischen den hohen Steinmauern des Dorfs. Reicht eine, irgendeine Tätigkeit für ein Leben in Würde? Lässt sich das Modell von Camini und anderen kalabrischen Dörfern in weniger strukturschwache Regionen übertragen? Und wie viel struktureller Paternalismus ist noch in der Augenhöhe-Administration dieses Projekts vorhanden?
Burger wechselt zwischen Interviewsituationen und Passagen der Beobachtung, die nicht nur auf Kommentar, sondern auch auf Untertitelung des Gesprochenen verzichten: Aufnahmen eines freundlichen Zusammenlebens und arbeitens, das aber die opake Dichte von Alltag behält, anstatt zum Idyll abstrahiert zu werden. Die deutliche gesetzte Kadrierung der Bilder, oft in Überblickstotalen, verweist auch auf die notwendig engen Ränder dieses einzelnen Projekts. (Joachim Schätz)
15 Kilometer trennen das Ionische Meer von der kleinen Gemeinde Camini, die sich auf den ersten Blick nicht von zahlreichen anderen, völlig aus der Zeit gefallenen Dörfern in der Provinz Reggio di Calabria im Süden Italiens unterscheidet. Doch Camini ist anders als der Rest des Landes, anders als der Rest des Kontinents. Während die Europäische Gemeinschaft über eine menschenwürdige Unterbringung der zur Migration gezwungenen Menschen tatenlos diskutiert, sieht man in Camini die Aufnahme von Migranten als Chance. (Joerg Burger)
"Un solo colore": Das Dorf an der Grenze, von Michael Pekler, Der Standard, 12.09.2016 (Artikel)
Wien – Die ersten Einwohner haben Camini in den Fünfzigerjahren Richtung Norditalien und Deutschland verlassen. Es gab keine Arbeit mehr in dem an der Küste des Ionischen Meeres gelegenen Dorf. Manche erinnern sich noch daran, was die Abwanderung damals für die Auswanderer, aber auch für die zurückgelassenen Familien bedeutete – Krankheit, Depression, Angst vor dem Verlust der Angehörigen.
Heute sitzen die alten Männer vor der Taverne und betrachten die Neuankömmlinge offensichtlich mit gemischten Gefühlen. In dem Projekt, das Giusi und Rosario, ein Paar mittleren Alters, für Asylsuchende entwickelt haben und mit vollstem Einsatz verfolgen, sehen nicht alle Einwohner Caminis Vorteile. Die Männer, Frauen und Kinder, die es über das Mittelmeer nach Europa geschafft haben, sollen in den vielen leerstehenden Wohnungen eine Unterkunft finden und im Rahmen des Projekts in der Landwirtschaft mithelfen. Knapp achtzig Asylwerbende leben derzeit in dem kalabrischen Dorf und bringen neues Leben in die alten Häuser und Straßen.
Kein Stranden
Ein aufmerksames Erkunden und genaues Zuhören sind die wichtigsten Vorzüge von Joerg Burgers "Un solo colore". Die erste Hälfte dieses Films mag sich noch dem unermüdlichen Einsatz von Giusi und Rosario widmen, doch Burger versteht es, dem Vorzeigeprojekt spätestens dann mit einem klaren, nüchternen Blick zu begegnen, wenn die Asylwerbenden selbst zu Wort kommen: Bei aller Wertschätzung für die Hilfeleistung geht es ihnen – dem Mädchen, das sich nach Mailand wünscht, ebenso wie der Frau aus Ghana, die ihre eigene Wohnung schätzt – darum, was der Alltag hier für die Zukunft bedeutet. Burger findet wiederholt Bilder eines sozialen und kulturellen Austauschs und macht, als sein eigener Kameramann mit der nötigen Distanz zum Geschehen, dennoch deutlich, dass Weinlese oder abendliches Fußballspiel nur ein erster Schritt sein kann, der die neuen Einwohner woanders hinführen muss.
Vielleicht bekommt man auch deshalb Camini nie zur Gänze in einer Totalen zu sehen, stattdessen am Ende den Leuchtturm an der Küste, der nach wie vor die Schiffe vor dem Stranden warnt. Für manche aber als ein Zeichen der Hoffnung.
(Michael Pekler, Der Standard, 12.09.2016)
Un solo colore
2016
Österreich
80 min