Last Shelter

Wien, Dezember 2012: Eine kleine Gruppe junger Afghanen und Pakistani besetzt die Votivkirche, die größte neogotische Kirche Österreichs. In Schnellverfahren haben sie negative Asylbescheide erhalten, obwohl sie unter denkbar prekären Bedingungen geflüchtet sind: Das Abbrennen von Schulen und Kopfabschneiden durch religiöse Fanatiker haben sie miterlebt, Familienmitglieder sind ermordet worden.

Bei Null Grad harren die Flüchtlinge dort monatelang protestierend und phasenweise im Hungerstreik aus. Trotz breiter öffentlicher Unterstützung werden einige von ihnen abgeschoben. Ihr Protest führt sie von Traiskirchen quer durch Österreich bis zur ungarischen Grenze, wo 2015 wieder an trennenden Zäunen gearbeitet wird. (Produktionsnotiz)

In Last Shelter war es mir wichtig Diskurse, Prozesse und Mechanismen in Bezug auf Flucht und Protest zu visualisieren. Wie reagiert eine Gesellschaft, wenn Flüchtlinge einen selbstorganisierten Protest in Gang setzen, eine Kirche besetzen und von Bittstellern zu politisch Handelnden werden? Wie reagieren wir, wenn sich zu selbstbewussten Aktivisten gewordene Flüchtlinge ausgerechnet zu Weihnachten in eine Kirche – und somit in unser soziales Denken und Gewissen einnisten? Welches Verhalten ist in einer offenen Gesellschaft angemessen und steht ziviler Ungehorsam bereits außerhalb unseres Wertesystems?

Ein Dokumentarfilm, der sich sozialen Themen widmet, muss sich auf widersprüchliche Diskurse einlassen, anstatt geschlossene oder ideologische Weltbilder abzuliefern. Er soll eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema über viele Jahre in Gang setzen und so einen Ausblick über das Klischeehafte und Oberflächliche hinaus eröffnen. Er muss Konfliktfelder und Eskalationsdynamiken nachvollziehbar machen und darf auch nicht vor der humanistischen Frage zurück schrecken: Was ist der Menschen wert und wie weit muss er sich entblößen, um ein Bleiberecht zu erlangen?

(Gerald Igor Hauzenberger)

Weitere Texte

Kinoempfehlung: Last Shelter von Gerald Igor Hauzenberger, von Robert Misik, misik.at, 26.11.2015 (Artikel)

Die Votivkirchenbewegung kommt ins Kino

Wer vor knapp zwei Jahren die Aktivitäten der Refugees verfolgte, die zuerst ein Zeltlager im Votivpark aufschlugen und dann wochenlang in der Votivkirche Unterschlupf fanden, der hat Gerald Igor Hauzenberger nicht übersehen können: Praktisch immer war er mit seiner Kamera und seinem Team dabei. Bei den Demonstrationen, beim Hungerstreik in der Votivkirche, bei den emotionalen Debatten dieser Männer, deren Nerven oft blank lagen, angesichts des immensen Drucks, unter den sie standen. Heute kommt das Produkt in die Kinos: Aus hunderten Stunden Material hat der Wiener Filmemacher einen abendfüllenden Kinofilm gemacht – „Last Shelter“.

Es ist ein großartiger Film geworden, beklemmend, voller Spannung, der sehr nahe an die Akteure rangeht. Und er erinnert an Episoden, die selbst die, die dabei waren, schon beinahe vergessen haben: die düstere Atmosphäre der Menschenjagd rund um die Votivkirche, als zivile Polizisten dauernd Leute aus der Dunkelheit abgriffen und in Schubhaft steckten; die Lebensgefahr, in die sich die jungen Männer hungerten; auch die Niedertracht, mit der die Innenministerin im letzten Vorwahlkampf aus Wahltaktik eine Handvoll Pakistanis in einer Nacht- und Nebelaktion abschob und damit sogar Caritas und Kardinal brüskierte. Ja, jene Innenministerin, die einige Skandale und einige Episoden erwiesener Unfähigkeit später immer noch im Amt ist.

Aber seht Euch den Film einfach selbst an – er ist einer der aktuellsten, beklemmendsten und hinreisendsten Beiträge zur gegenwärtigen Flüchtlingsthematik geworden. Auch, weil Hauzenberger die Geschichte bis ins Jetzt zieht, wenn seine Protagonisten heute dorthin zurück kehren, wo ihr Protest seinen Ausgang nahm: nach Traiskirchen.

Die Radikalität und Unbeugsamkeit des Protests der rund 60 Refugees ging damals vielen ein wenig auf die Nerven, auch Wohlmeinende beklagten ihre Kompromisslosigkeit. Mit den Betreuern der Caritas gab es regelmäßig Konflikte, was auf beiden Seiten gelegentlich für böses Blut sorgte: die Flüchtlinge fühlten sich von der Caritas verraten, die Caritas fühlte sich in ihrer Arbeit ungerecht und unfair beurteilt. Dabei war alles wohl primär ein Zusammenprall von Kulturen, und das ist gar nicht religiös-ethnisch gemeint: Von Protestkultur, von linker Supportern, von Caritas, von Kirchenhierarchie, Welten somit, die bisher nicht viel miteinander zu tun hatten.

So haben diese Refugees, wie man heute weiß, einiges bewirkt: Erstens haben heute 30 Prozent jener, die den Protest begonnen haben, einen ordentlichen Aufenthaltstitel. Weil sie protestiert und etwas durchgesetzt haben, aber auch, weil sie der Flüchtlingsthematik Gesichter gaben und damit Helfer bis weit ins politische Establishment hinein gewannen. Sie haben aber auch die Zivilgesellschaft als Ganzes einem Lernprozess ausgesetzt, Hilfsorganisationen, die plötzlich mit Flüchtlingen konfrontiert waren, die selbst ihr Wort erhoben. Die für sich selbst sprachen. Sie haben erzwungen, dass man sie als Menschen wahrnimmt, nicht als Nummern im Asylverfahren. Dass die verschiedenen Kulturen der Zivilgesellschaft während der Hilfsaktionen der vergangenen Monate so reibungsfrei miteinander gearbeitet haben, hat auch damit zu tun, dass man schon ein wenig üben konnte.

Ein Lernprozess – bei dem Igor Hauzenberger seine Kamera draufhielt. Vieles lässt der Dokumentarfilmer weg, etwa die Rolle der Helfer und Unterstützer, um auf das zu fokussieren, was an dieser Geschichte am Wichtigsten ist: auf Gebeutelte, Gestrandete, auf die Rechtlosesten der Rechtlosen, die dennoch die Kraft aufbrachten, für ihre Sache zu kämpfen. Eine Geschichte, die zwischendrin fast nur dunkelgraue Momente hatte, und doch für überraschend viele verdammt gut ausging.

(Robert Misik, misik.at, 26.11.2015)

Was bedeutet es für das Mensch-Sein, abgelehnt zu werden?, Interview mit Karin Schiefer, AFC, November 2015 (Interview)

Betrachtet man Ihre letzten beiden Filme – Der Prozess und nun Last Shelter – , so greifen Sie aktuelle innenpolitische Themen auf. Es sind Filme, die nicht warten können, bis sie finanziert werden, um an einem gut geplanten ersten Drehtag angedreht zu werden. Was muss gegeben sein, dass Sie die Kamera nehmen und an den Ort des Geschehens oder der Unruhe fahren, um dabei zu sein?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Ich glaube, es gibt unterschiedliche Formen, Filme zu machen. Würde ich einen reinen Kunstfilm machen, dann würde ich ein klares Konzept erstellen und versuchen, in formaler Strenge einen Film zu gestalten, der auch paradigmatisch neue Gestaltungsmöglichkeiten erforscht. Da aber in den letzten Jahren die Welt immer schneller wird, die Freiräume für politischen Aktivismus immer enger werden, ist es wichtig schnell zu reagieren bzw. überhaupt zu reagieren, weil bestimmte Themen essentiell die Veränderung in unserer Gesellschaft ausmachen. Sowohl zu Der Prozess wie auch zu Last Shelter bin ich ohne vorherige Recherche eher zufällig gekommen. Zu Last Shelter kam es, weil die Flüchtlinge in der Kirche mich darum baten, die Kamera aufzustellen und ihre Geschichten aufzuzeichnen. eine solche Arbeitsweise erfordert eine permanente Anpassung an sich verändernde Gegebenheiten. Ich kann mir nicht die Ruhe gönnen, eine Idee lange ausreifen zu lassen und sie dann filmisch umzusetzen. Es ist eher wie mit einem Schiff aufs offene Meer hinauszufahren und dann, wenn man in einen Sturm geraten ist, mit den Trümmern etwas Seetaugliches zu schaffen, das einen zurück in den Hafen führt. Mir ist weniger das Thema wichtig als viel mehr die genaue Beobachtung einer Situation über längere Zeit; eine Reflexion gesellschaftlicher Prozesse.

Geht es Ihnen dabei vor allem um Zeugenschaft in einem diffusen Bereich des Rechtsstaates?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Es geht darum, wach zu sein. Ich hatte damals gerade den Österreichischen Filmpreis für Der Prozess gewonnen und war im Zuge der Aktion Solidarisches Schlafen in die Votivkirche gekommen. Das war der Anstoß, mir die Geschichten der jungen Männer dort anzuhören. Zur Zeit recherchiere ich zum Hypo-Alpe-Adria-Thema, das führt mich manchmal am Grenzzaun zwischen Slowenien und Kroatien vorbei. In so einem Fall steige ich aus, drehe etwas und gleite in ein nächstes Thema über. Es geht mir sehr stark um Wachsamkeit gegenüber Themen, die unsere Welt im Augenblick bewegen. Was den Begriff „Zeugenschaft“ betrifft, komme ich zu sehr aus der Filmtheorie, als dass ich mir erlauben könnte, zu sagen, die Kamera sei Zeuge von etwas Realem. Eine Kamera evoziert eine spezifische Realität, beeinflusst menschliches Verhalten und erzeugt eine filmische Realität. Und Filme schaffen, heißt immer gestalten. Dokumentarfilme zu machen heißt für mich Bilder und Ton einzufangen und diese in der Montage zu einem dialektischen oder assoziativen Plot zusammenzubauen. Zeugenschaft ja, aber nicht intentional, denn im Dokumentarfilm geht es um mehr als nur abzubilden. Grundsätzlich versuche ich, eine große Nähe zu Menschen aufzubauen, die in Konfliktsituationen sind. Mich interessieren Menschen, die es wagen, sich kritisch an den Rand der Gesellschaft zu stellen oder die durch ihre Ideale an einen Punkt geraten, wo sie Konflikte in einer Gesellschaft hervorrufen, weil es ihnen um mehr Gerechtigkeit geht oder sie von gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen sind. Da hake ich ein. Als die asylsuchenden Männer in der Votivkirche sagten, sie würden lieber in der Kirche sterben, als dass sie in ihre Heimat zurückgehen, wurde mir klar, in welcher Ausnahmesituation wir uns befanden und wie wichtig es für sie war, den Menschen hier zu erklären, was es bedeutet, aus einem kriegsführenden Land zu kommen. Was bedeutet es für das Mensch-Sein, abgelehnt zu werden? Im 21. Jh. ist es mir sehr wichtig, mich nicht nur mit den Mitmenschen, sondern auch mit der Mitwelt, der Umwelt auseinanderzusetzen. Wir sind bald neun Milliarden Menschen. Während man im 20. Jh. als kommunistischer Idealist noch sehr anthropozentrisch darauf konzentriert sein konnte, das Leben des Menschen zu verbessern, so wirkt dies Position heute mitunter naiv. Ökologischer Fakten und Marker, wie der ´Footprint´, der unser Konsumverhalten in Bezug auf Nachhaltigkeit bewertet, zeigt, dass wir nicht ohne Rücksicht auf Natur und Tiere zu kurzsichtig die Ressourcen der Welt ausbeuten können. Menschen, die sich die Frage stellen, wie sieht in Zukunft ein lebenswertes Leben aus, interessieren mich sehr. Für sie wird es immer schwieriger in einer Welt permanenter Krisen.

Als Sie im Winter 2013 zu filmen begannen, war nicht abzusehen, in welchem Ausmaß sich die Problematik verschärfen würde. Welche Bewegungen haben Sie in dieser Zeit wahrgenommen. Der konkrete Fall in der Votivkirche ist ja nach und nach aus dem Fokus der Medien geraten?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Das Refugee Protest Camp war ein geduldeter Protest in ´Übergangsräumen´. Stets unter der Prämisse: „Hier dürft ihr aber nicht bleiben.“ Das ist sehr symptomatisch für unsere offene Gesellschaft. Es gibt keine Verbote, aber die Spielräume werden kleiner. Nach dem Serviten-Kloster bot man ihnen Räume außerhalb von Wien an. Je mehr man versuchte, ihnen die Sichtbarkeit zu nehmen, umso mehr hat sich ihr Protest radikalisiert. Sie versuchten erneut die Votivkirche zu besetzen, wurden aber binnen Stunden von der Polizei hinausgeschmissen. Dann versuchten sie, die Akademie der Bildenden Künste zu besetzen, wo bereits davor der Aufruf „Stop deportations“ am Eingang von KünstlerInnen programmatisch platziert wurde. Nach drei Tagen wurden sie wieder hinausgeworfen. Es war eine verzweifelte Suche nach einer letzten Zuflucht, einer Bleibe, ohne politisch verstummen zu müssen. „Last Shelter“ war nun weniger Forderung als Wunsch in einer christlichen Gesellschaft, Liebe, Glaube und Hoffnung für sich in Anspruch nehmen zu dürfen.

Was hat diese Beobachtung über längere Zeit zu Tage geführt?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Ich wollte auch wissen, wie diese Menschen, wenn sie Asylstatus erlangt haben, dann in der Gesellschaft dastehen. Es setzt nämlich dann wieder der klassische Modus ein – Zeitungsverkäufer, Zusteller oder Student – und dann wieder arbeitslos. Es wäre wichtig, eine kontinuierliche und sinnstiftende Erfahrung in der neuen Gesellschaft zu ermöglichen. Einer der Männer, der als Zeitungsausträger arbeitet, arbeitet einmal in der Woche bei Radio Orange. Es geht um einen Entfaltungsprozess in ihrem Leben. Das Bittere ist, dass sie mit relativ großen Erwartungen kommen, weil sie sehr gut ausgebildet sind und dann mindestens ein bis zwei Kategorien darunter Jobs beginnen müssen. Daher ist es so wichtig, ergänzend dazu Kommunikationsfelder zu schaffen. Räume, wo diese Menschen sich artikulieren, schreiben können, wo Intellektuelle an Universitäten aufarbeiten können, was da passiert ist. Die Aufgabe Europas als offene und pluralistische Gesellschaft ist es, dem Krieg die jungen Männer zu entziehen – das ist das allerwichtigste – und in einem weiteren Schritt die Reflexion darüber, wie diese Krise entstanden und über sie hinwegfegen konnte, ohne dass sie die Chance hatten, politisch stärker aktiv zu werden. Flüchtlinge erzählten mir, es gibt eine Schwelle in Bürgerkriegssituationen, die keinen Widerstand mehr ermöglicht, sondern nur noch zwei Optionen bietet: Flucht oder zur Waffe zu greifen. Und das heißt Menschen mit anderen Anschauungen oder anderer religiöser Zugehörigkeit zu töten. Teilweise haben sie sich auch von ihrem Glauben abgewandt, weil sie den restriktiven Systemen ihrer Heimatländer entkommen wollen. Diese Männer entstammen einer vaterlosen Gesellschaft, die Ideale der Väter und Familien sind verloren gegangen und deshalb sind sie auch weggegangen. Sie haben sehr schnell den Übergang Richtung Europa vollzogen, auch wenn sie aus einem extrem konservativen Umfeld in Afghanistan stammen. Für sie war es klar, dass eine gewisse Anpassung notwendig ist, weil sonst eine Kommunikation mit den Menschen in Europa nicht möglich wäre.

Gerade in Situationen, wo Sie mit der Kamera präsent sind, wo es zu Aufregungen im öffentlichen Raum kommt, ist man als Filmemacher längst nicht mehr der Einzige, der die Ereignisse mit der Kamera festhält. Unzählige Telefone filmen ebenfalls mit. Wie hat sich für Sie als Filmemacher da die Rolle des Kameraauges gewandelt?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Ich halte es für sehr wichtig, dass – wie ich sie nenne – Medienaktivisten so etwas wie das „Video des Tages“ machen. Sie gehen in Extremsituationen rein und publizieren sofort. Das Potential des Dokumentarfilms ist der längere Atem, komplexere gesellschaftliche Abläufe erzählen zu können. Shahjahan, der in den Polizeikreis geraten und festgenommen worden ist, wäre wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt verurteilt worden, hätte er nicht dank des Funkmikrofons, das er am Körper trug, beweisen können, dass die Polizisten nicht vorschriftsmäßig die Personenkontrolle durchgeführt hatten.
Vor Gericht wurde unsere Filmmaterial als Beweismittel akzeptiert und es kam zu Freisprüchen. Die Medien haben da eine sehr wichtige öffentliche Funktion. Ich hatte nicht nur mit der Polizei Diskussionen, sondern auch mit links-anarchistischen Aktivistinnen, die nicht im Bild sein wollten. Ich gehe in meiner Filmarbeit nicht in Komplizenschaft, darunter verstehe ich, dass ich von Beginn an klar stelle, dass jemand für den Film verantwortlich sein muss, das bin ich. Wenn sich Leute bereit erklären, mit mir einen Film zu drehen, dann möchte ich eine gewisse Freiheit in der Gestaltung haben. Das wurde akzeptiert und es gab mir die Möglichkeit, Menschen im ganzen Spektrum zu zeigen. Man kann weder von den Flüchtlingen dieser Protestbewegung noch heute an der österreichischen Grenze in Spielfeld erwarten, dass bis ins Letzte mit Vernunft reagiert wird, wenn plötzlich mehrere tausend Leute aufeinander drücken. Was macht der Mensch in Konflikten und Extremsituationen? – ist eine Frage, die mich sehr beschäftigt, weil sie Essentielles über unser Leben aussagt.

Gerade im Flüchtlingsthema ist es nicht möglich, sich auf die Rolle des Gestalters und Beobachters zurückzuziehen, einer zivilen Verantwortung kann man sich gewiss nicht entziehen. Wie schwebt man da in der Rolle zwischen Beobachter und Unterstützer?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Wenn man einen Film über Flüchtlinge macht, kann man leicht alles falsch machen, aber niemals alles richtig. Es war der schwierigste Film in meinem bisherigen Leben, weil die ethische und ästhetische Verantwortung enorm ist. Der filmische Diskurs ist sehr emotional überlagert. Es freut mich, dass mich mit meinen Protagonisten weiterhin eine Freundschaft verbindet. Besonders bei den abgewiesenen Asylwerbern ist die Verantwortung enorm, weil sie große Geldprobleme haben, große Probleme mit ihrer Identität, Unterstützung auf Behördenwegen brauchen. Es ist Filmemachen plus Sozialarbeit. Ich muss schon sagen, diese doppelte Aufgabe hat mich komplett erschöpft.

Was bedeutet diese hohe Flexibilität für den Produktionsalltag?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Ich habe mich über den Österreichischen Filmpreis für Der Prozess so besonders gefreut, weil es eine starke Produktionsleistung war, mit einem kleinen Budget über einen langen Zeitraum zu drehen. Ich widmete mich über drei Jahre einem Thema theoretisch, praktisch und persönlich. Das bedeutet ein komplettes Eintauchen in eine Sphäre und enorme finanzielle Verantwortung durch Vorleistung. Das hat wirklich mit Engagement und Zeugenschaft zu tun. Man muss bereit sein, sich einer Sache zu 100% zu widmen und sich auf einen vollkommen offenen Prozess einzulassen. Ein Drehbuch, das sich permanent ändert und nur in Modulsystemen wachsen kann. Es kann auch zu großen Irrgängen führen. Ich habe schon ganze filmische Stränge verworfen an denen wir Monate gearbeitet haben. Last Shelter schaute im Frühjahr 2015 völlig anders aus. Das letzte Drittel bestand aus Aufnahmen von Elfriede Jelineks Theaterstück Die Schutzbefohlenen, das sie über die Asylwerber in der Votivkirche geschrieben hat – also eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Situation. Wir dachten in dieser Phase, dass es doch eher ein Kunstfilm werden könnte. Und plötzlich waren in Traiskirchen wieder 3000 bis 4000 Leute gestrandet wie schon drei Jahre zuvor. Mit einem Schlag hat sich der Film komplett gewandelt und wir mussten wieder von Neuem zu drehen beginnen und haben ein halbes Jahr Arbeit weggeschmissen. Das muss man durchhalten und es kostet viel Geld. Undankbar kann es dann werden, wenn man den Film den Festivals zeigt. Dann kann es heißen: ein schöner Film, mutig im Ansatz, aber leider formal nicht konsequent genug. Man sitzt quasi zwischen den Stühlen. Deshalb freue ich mich jetzt schon, dass in einem meiner nächsten Filme ein Bauwerk im Zentrum steht, das mir erlaubt viel mit Plansequenzen zu arbeiten. Ich werde den Zaunbau in der EU beobachten und filmisch reflektieren. Es wird ein stiller Film werden, in dem es auch um Menschen geht, aber nicht nur.

Wie kommt man in einem so langen Drehprozess und einer Flüchtlingsproblematik, die sich gerade verschärft, zu einem Schlusspunkt im Film?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: Ich musste einen Schlusspunkt setzen, weil ich gespürt habe, dass sich die Flüchtlingsdebatte radikal verändern wird. Wir sind alle gefordert in einem historischen Prozess unsere Angst durch Mut zu ersetzten und unmöglich Geglaubtes möglich machen. Lange haben sich in der Asylpolitik der Bund und die Länder gegenseitig angeschwärzt Das Durchgriffsrecht hat sehr viel geändert. Plötzlich ist es auch möglich, dass auf lokaler Ebene hunderte helfende Hände aktiv werden. Diese Prozesse mitzureflektieren, finde ich extrem wichtig, wenn man politisch interessiert ist. Es haben Leute gemeint, dass ich mir mit diesem Film viele zum Feind machen würde. Besonders gut kommt keiner weg. Der politische Film muss auch wehtun. Der politische Film ist nicht nur dazu da, dass ich als Filmemacher das Sprachrohr werde, er muss eine Wir-Situation reflektieren und Konflikte aufzeigen. Er steht also oft in der Mitte, aber schafft es hoffentlich auch, wenn man im Kino darüber diskutiert, dass man in Konfliktsituationen miteinander reden kann und Erkenntnisprozesse einleitet.

Der Begriff „last shelter“ fällt mehrmals im Laufe des Films. Welche Gedanken haben ihn zum Titel gemacht?

GERALD IGOR HAUZENBERGER: An einer Stelle sagt ein Flüchtling„The church is our last shelter. We respect the church like our mosque.“ Dieser Satz hat in mir die Frage ausgelöst, was das Wort „shelter“ nun eigentlich genau birgt? An anderer Stelle sagt einer der Protagonisten: „The last shelter is the place where I can cover my body“. Es geht um eine Art der Geborgenheit, wo ich nicht nackt, nicht dem System ausgeliefert bin, wo ich mich nicht entblößen muss. Asylprozesse bedeuten für die Betroffenen, dass sie immer wieder ihre Geschichte erzählen, dass sie glaubwürdig vermitteln müssen, dass sie aus einer lebensgefährlichen Situation geflohen sind. Diese Menschen werden sehr oft retraumatisiert. Giorgio Agamben spricht vom „homo sacer“, dem rechtlosen, entblößten, nackten Menschen. Agamben formuliert das sehr hart, aber es ist nachvollziehbar. Der homo sacer ist ein Mensch, der nicht geopfert werden darf, der aber nicht die gleichen Rechte wie die anderen Menschen hat, als wäre er ein Mensch zweiter Klasse. Bei Flüchtlingen ist das oft so, dass sie wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, weil sie ewig die Staatsbürgerschaft nicht bekommen. Es wird in Zukunft für Afghanis oder Pakistanis sehr schwierig werden, die Staatsbürgerschaft zu bekommen, für Syrer vielleicht ein bisschen leichter. Es wird zunehmend Abstufungen geben, obwohl die Menschenrechte grundsätzliche unteilbar sind.
Numan, der an der Akademie der Bildenden Künste studiert, hat es so wahrgenommen, dass Auf-der-Flucht-Sein immer auch Nackt-Sein bedeutet, man seine Geschichte immer wieder aufs Neue erzählen muss. Wenn sie nicht (für) wahr genommen wird, muss man sie noch öfter, noch detailreicher erzählen. Die Situation, dass man kein Zuhause hat, dass man als Flüchtling für immer fremd ist, dass man die letzte Zuflucht in der eigenen Kleidung sucht, um seine Identität zu schützen, das ist symptomatisch auch das Thema des Films. Vielleicht hat „last shelter“ etwas von einem modernen Heimatbegriff – von einer notwendigen Geborgenheit im Innen und Außen. Das kann die Kirche, ein Glaube, die eigene Identität oder ein sozialer Raum, mit neuen Freunden sein – etwas, wo man sich zu Hause, geborgen und sicher fühlt.

(Interview mit Karin Schiefer, AFC, November 2015)

Fluchtgedanken: „Last Shelter“ und „This Human World“ im Kino, von Stefan Grissemann, Profil, 03.12.2015 (Artikel)

Nachrichten vom desolaten Zustand der Welt: Der Dokumentarfilm „Last Shelter“ zeichnet die Situation von Asylwerbern nach, das Festival „This Human World“ Krisen, Gewalt und akut bedrohte Menschenrechte.

In prekären Zeiten kann die Kunst – auch wenn ihr das oft nicht zugetraut wird – dabei helfen, aufzuklären und zu sozialem Aktivismus zu bewegen. Im Gegenwartskino spiegelt sich die Flüchtlingskrise jedenfalls deutlich. Neben Jakob Brossmanns überaus respektablem Film „Lampedusa im Winter“ läuft nun auch Gerald Igor Hauzenbergers „Last Shelter“, eine Nahaufnahme der Situation hiesiger Asylwerber. Von der Besetzung der Wiener Votivkirche im Dezember 2012 geht die Erzählung aus.

Drei Jahre lang hat Hauzenberger die Fliehenden und Abgeschobenen begleitet und beobachtet, nach Traiskirchen und an die ungarische Grenze. Wer wissen will, was Menschen bei uns erleben, die in ihre Heimatländer nicht zurückkehren können, sollte „Last Shelter“ unbedingt sehen. Zur vertiefenden Reflexion wird es, flankierend zur Projektion, diese Woche im Wiener Stadtkino zwei Diskussionsrunden geben (und im Weiteren auch Debatten in Graz, Wels, Linz, Freistadt, Krems und Innsbruck).

Das Wiener Menschenrechtsfestival „This Human World“ arbeitet bereits seit 2008 an Bewusstseinsbildung angesichts der längst unüberschaubar gewordenen sozialpolitischen Probleme. Am 3.12. wird das Team um Johannes Wegenstein das diesjährige Filmprogramm mit der britisch-marokkanischen Slum-Zirkus-Doku „Pirates of Salé“ eröffnen – und anschließend eine gute Woche lang, in mehr als 70 handverlesenen Arbeiten, über Feminismus, Migration, Queerness, Gewalt und den Tod nachdenken.

(Stefan Grissemann, Profil, 03.12.2015)

"Last Shelter": Letzter Ausweg Widerstand, von Dominik Kalmazadeh, Der Standard, 26.11.2015 (Kritik)

Gerald Igor Hauzenberger begleitete jene Flüchtlinge, die 2012 die Votivkirche besetzten. Ein Dokumentarfilm, der für die Isolation der Schutzsuchenden die Sinne schärft

Wien – Der Aufruf zu Solidarität, dazu, gegen die unannehmbaren Bedingungen im Flüchtlingsheim Traiskirchen zu protestieren, kommt einem gleich zu Beginn nur allzu vertraut vor. Doch die Szene stammt nicht aus diesem Jahr, noch nicht einmal aus dem letzten. Drei Jahre ist es vielmehr schon her, dass eine Gruppe von afghanischen und pakistanischen Asylsuchenden nach Wien marschierte und schließlich die Votivkirche besetzte, um gegen die im Eilverfahren beschlossene Aberkennung ihres Asylansuchens mit gewaltfreiem Widerstand ein Zeichen zu setzen.

Der österreichische Dokumentarist Gerald Igor Hauzenberger ("Der Prozess") hat die Protestaktion von Beginn an mit der Kamera begleitet. "Last Shelter" (deutsh: "Letzter Zufluchtsort") heißt nun der daraus entstandene Film, der an dem Vergleich mit den gegenwärtigen, um vieles dramatischeren Verhältnissen nicht umhinkommt. Doch gerade der enge Fokus auf eine recht überschaubare Gruppe an Menschen, die aus Angst vor Abschiebung zu verschärften Maßnahmen greifen – auf die Besetzung der Kirche erfolgte in einem weiteren Schritt der Hungerstreik -, arbeitet noch einmal die zentrale Opposition heraus: auf der einen Seite Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, auf der anderen eine Bürokratie, die per staatliche Ein- und Ausschließung nüchtern verwaltet.

"Last Shelter" ist vor allem auf der ersten Ebene wirksam, weil der Film weniger eine Untersuchung der politischen Hintergründe betreibt, sondern die Lebensbedingungen und den entschlossenen Kampf der Flüchtlinge ins Zentrum rückt. In den besten Momenten des Films wird das Gefälle in direkten Konfrontationen sichtbar: Kardinal Schönborn, der die Gestrandeten anfleht, die Kirche zu verlassen, weil er "sonst ins Gefängnis muss". Die vor Weihnachten in Decken gehüllten Flüchtlinge, deren Gesichter fahler werden, bringen aber schon davor indirekt manch humanes Selbstverständnis, christliche Gebote wie das der Nächstenliebe ins Spiel.

Das bessere Framing

Hauzenberger tut gut daran, bei aller Empathie die Position des Betrachters zu betonen. Die Kamera sucht größere Ausschnitte, soweit das der begrenzte Raum zulässt, reportagehaftes Gewackel bildet eher die Ausnahme. Das gibt dem Film ein Framing, in dem dann auch die wachsende Wut und Verzweiflung der Flüchtlinge, die teilweise abgeschoben werden, besser aufgehoben wirken.

Auch für ihre Isolation findet "Last Shelter" gültige Bilder. Noch in der Akademie der bildenden Künste fühlt sich die Rektorin von der Präsenz der Asylanten merkbar in ihrem Alltag gestört. Und auch wenn es Einzelnen von ihnen gelingt, oft Jahre später doch noch den positiven Asylbescheid zu bekommen, wird klar, wie hart der Weg dorthin ist.

(Dominik Kalmazadeh, Der Standard, 26.11.2015)

Last Shelter – Trailer und Kritik zum Film, APA, vienna.at, 24.11.2015

Bilder vom überfüllten Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, von Märschen über Bahngleise und von Massen an Grenzübergängen erreichen uns seit dem Sommer Tag für Tag.

Auch Gerald Igor Hauzenberger zeigt sie am Ende seiner Doku “Last Shelter” – stellt ihnen aber Gesichter der Votivkirchen-Besetzung 2012 voran, die inmitten der Zuspitzung der Flüchtlingsdramatik fast vergessen sind. Ab Freitag im Kino.

Last Shelter – Die Geschichte

Über ein Jahr erstreckte sich die Refugee-Bewegung, die im November 2012 mit dem “Protestmarsch” einer Gruppe junger vorwiegend pakistanischer und afghanischer Männer vom Erstaufnahmezentrum Traiskirchen nach Wien begann und nach der Räumung des “Protestcamps” im Sigmund-Freud-Park am 18. Dezember zur Besetzung der Votivkirche führte. Im Schnellverfahren hatten die Männer einen negativen Asylbescheid erhalten, fürchteten jedoch die Abschiebung zurück in ihre Heimat, aus der sie vor Kriegszuständen und religiösen Fanatikern geflüchtet waren. Mehr als zwei Monate verbrachten sie bei Null Grad und teils in Hungerstreik in der Votivkirche, ehe sie ins Servitenkloster und später kurzzeitig in die Akademie der bildenden Künste übersiedelten.

“Last Shelter” begleitet den Kampf der Männer um Asyl über diese Dauer und noch darüber hinaus – beginnend mit dem 25. Protesttag, als insgesamt 63 Männer bereits in der größten neogotischen Kirche Österreichs ihr Bettenlager errichtet haben. Sechs von ihnen rücken für Hauzenberger in den Fokus, erzählen vor der Kamera von den Zuständen, denen sie entflohen sind, von der Hoffnung, in Österreich Sicherheit zu finden, und vom System, das sie im Stich lässt.

Kommentarlos, lediglich mit vereinzelten Texttafeln gestaltet Hauzenberger sein Dokument österreichischer Zeitgeschichte, bei dem er am Ende auch den Bogen ins Heute spannt: Er besucht die Männer, die teils in Österreich oder anderswo noch immer auf ihren Asylbescheid und eine Arbeitserlaubnis warten, kehrt im Sommer 2015 mit einigen von ihnen nach drei Jahren nach Traiskirchen zurück. Die Zustände, die sie damals von dort forttrieben, haben sich seitdem verschlimmert, SPÖ-Bürgermeister Andreas Babler spricht von “einer Schande für Österreich”.

Last Shelter – Die Kritik

Babler ist einer von wenigen, die abseits der Asylwerber vor der Kamera zu Wort kommen. Hauzenberger hat zwar mit zahlreichen Verantwortlichen des Innenministeriums, der Caritas und anderer involvierter Institutionen gesprochen, wollte aber bewusst keinen reinen Interviewfilm machen, wie er der APA sagte. Wichtige Stimmen werden nun am Beginn in einer Art Collage über einen Schwenk durch den großen, dunklen Kirchenraum gelegt, ordnen die Sachlage ein – wenn das auch für Außenstehende, die so gar nicht mit der Thematik vertraut sind, überfordernd sein dürfte.

Die Konzentration auf seine Protagonisten jedenfalls ermöglicht einen neuen Blick über Medienberichte hinaus, und die Begleitung über einen langen Zeitraum vermittelt ein beklemmendes Gefühl des Feststeckens: Wir sehen, wie die Männer zunehmend schwächer werden, körperlich gezeichnet vom Hungerstreik, zurückgeworfen durch laufende Ablehnung, Abschiebungen, Festnahmen. Die drohende Räumung der Kirche durch die Exekutive ist ebenso spürbar wie die herbe Ernüchterung bei der schließlich nur temporären Übersiedelung ins karge Kellergewölbe des Servitenklosters und die Perspektivenlosigkeit Jahre später.

“Last Shelter” ist Hauzenbergers zweite Doku über einen Kampf gegen systemisches Unrecht – und sie ist ebenso zeitlos. 2011 widmete er sich in “Der Prozess” dem nicht minder aufsehenerregenden Gerichtsprozess gegen Tierschützer auf Grundlage des Mafia-Paragrafen 278a. Nun rückt er hochaktuell die Frage nach dem “Danach” der Flucht in den Mittelpunkt – prangert oft jahrelange Asylverfahren an, zeigt allseitige Überforderung und lenkt vor allem den Blick auf jene Menschen, auf die bei der aktuellen dramatischen Nachrichtenlage schnell vergessen werden: Männer wie Shajahan, Numan oder Mustafa, die ohne Asyl und Arbeitserlaubnis seit Jahren in der Luft hängen.

(APA, vienna.at, 24.11.2015)
Orig. Titel
Last Shelter
Jahr
2016
Land
Österreich
Länge
103 min
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch, Englisch
Downloads
Last Shelter (Bild)
Last Shelter (Bild)
Last Shelter (Bild)
Credits
Regie
Gerald Igor Hauzenberger
Drehbuch
Gerald Igor Hauzenberger
Kamera
Matthias Gritsch, Martin Klingenböck
Mitwirkende/r
Schahjahan Khan, Mir Jahangir, Mohammad Numan
Mit Unterstützung von
Zukunftsfonds Republik Österreich, Land Oberösterreich, Filmfonds Wien, BKA - innovative film, Filmstandort Austria
Verfügbare Formate
Digital File (prores, h264) (Distributionskopie)
Blu-ray
Bildformat
16:9
Tonformat
Dolby Stereo
Farbformat
Farbe
Festivals (Auswahl)
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Jihlava - East Silver Market