Wohnhaft Erdgeschoß
“Das Leben ist sinnlos”, sagt Heiko. Nackt fläzt sich der 51-Jährige, flankiert von Kippen und Colaflaschen, Camcorder und Fliegenfänger, im Bürosessel seiner rappelvollen Berliner Zimmerzelle. Und erzählt. Über den verhassten Vater, die verbitterte Mutter, die geliebten, verstorbenen Großeltern. Über enttäuschte Beziehungen und latente Aggressionen. Über seine Zeit in Sachsen-Anhalt und die Wende, die Heikos Arbeitslosigkeit gesichert hat: Der Blechumformer “auf Papier” kann sich heute kein Zugticket leisten. Er schwört sich, für immer alleine zu bleiben. Dafür kann er zuhause machen, was er will. Zum Beispiel pissen. Auf den Boden, ins Bett, auf sich selbst – ganz wie es ihm (und nicht nur ihm) gefällt.
Der produktive Menschenbildermacher Jan Soldat stellt Heiko weder aus noch bloß noch auf ein filmisches Podest. Er hört einfach zu, lässt ihn in seiner Alltagsumgebung agieren, fragt hin und wieder etwas aus dem Off. Gemeinsam fahren die beiden zur Mutter nach Hettstedt (“Drecknest!”), wo Heiko alte Kinoruinen besucht. Und vor dem Haus seiner Großeltern, einem Gedächtnisort seltenen Glücks, in bittere Tränen ausbricht: “Die haben hier alles zerstört!”
Aus dem unscheinbaren, berührenden, dabei durchaus nicht humorfreien MiniDV-Kurzporträt eines gebrannten Mannes schält sich so sukzessive ein vielschichtiges Mahnmal für alle Wendeverdammten, deren (Körper-)Geschichten die verdrängte Kehrseite bundesdeutscher Fortschrittsideologie und Wiedervereinigungsseligkeit zum Vorschein bringen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Heikos stolze Pinkelvorliebe nicht mehr als traumainduzierte “Perversion”, sondern als Auflehnung gegen eine ungerechte Schicksalsverordnung. Pissen ist für ihn das, was es auch für alle anderen ist, nur in höherem Maß: Druckventil, Erleichterung, ein Augenblick goldener Freiheit. (Andrey Arnold)
Wohnhaft Erdgeschoß
2020
Österreich, Deutschland
48 min