Zetteldämmerung
Am Ende des Sommers 1978, wieder in Wien, lernte ich Alfred Kaiser kennen. Er hatte bis dahin drei Filme gemacht und war schließlich einverstanden, einen vierten gemeinsam mit mir zu machen. Ich stellte mir vor, daß ich noch einmal mit meinen Gedichtzetteln unterwegs sein würde; in einer letzten, absichtlichen Bedrängtheit während einer Reise von Tag zu Tag durch deutschsprachige Großstädte. Und ich stellte mir vor, daß die dabei laufende Kamera den optischen Anteil der Zettelvorgänge nacherzählen könnte und daß sie mir die Zettelgeschichten aber auch endgültig aus der Seele sengen würde.
Am 8. November 1978 haben wir uns mit 100 000 Zetteln und mit den Filmgeräten in den Zug gesetzt und Michael Schönemann von der Wuhrmühle abgeholt. Von dort ist es per Auto und zu dritt weitergegangen nach München, Augsburg, Stuttgart, Baden-Baden, Frankfurt, Kleve, Köln, Rotterdam, Würzburg und zurück. Ohne Ausführlichkeit fürs Kameraaufbauen, Kameraabbauen, Unterkunftsuchen, Wegfinden und ohne Vorbereitungen gegen den Wintereinbruch.
(Christian Ide Hintze, 1979)
Aufgefallen ist mir, dass während des ganzen Films auf Hintze nicht als Dichter oder Künstler verwiesen wird, sondern auf Hintze als Zettelverteiler, und zwar als einen Mann, der Zettel verteilt die nicht von vornherein, und bei näherem Besehen dieser Zettel dann keineswegs, den Eindruck machen, dass er nun, wie das ja üblich ist, Zettel für eine politische Bewegung oder für ein kommerzielles Unternehmen verteilt, sondern dass diese Zettel eben eine persönliche Message darstellen, ich glaube dass auch während des Films darauf hingewiesen wird, dass es sich um einen Versuch handelt, Kommunikation herzustellen, Beziehungen zu Menschen, von dieser einen Person, Hintze, aus, damit trifft er sich auch mit Künstlern, Schriftstellern, Dichtern, die das auf einem anderen Weg tun. Mir ist sogar aufgefallen, dass er fast wie ein Messias von den jungen Leuten empfangen wurde, so wie wenn noch nie vorher eine Künstlerpersönlichkeit dieser Art aufgetreten wäre.
Der Hinweis auf das messianische Element ist mir auf der Zunge gelegen, ich habe es mir aber versagt, denn ich weiss nicht, ob es im Sinne von Hintze ist, nun hier als ein Messias gesehen zu werden, also Abgesandter einer göttlichen Macht, das ist sicherlich nicht im Sinne von Hintze, sondern ich sehe es so, dass er aus bestimmten Motiven heraus als ein sehr junger Mensch diesen Weg der Kommunikationsaufnahme mittels selbstverfaszter Texte gewählt hat, und es hat ja auch viele Jahre gedauert, ehe das etwas im traditionellen, konventionellen Sinn eingebracht hat, nämlich ein Buch und diesen Film, Dinge die nicht von vornherein in der Absicht der durch Jahre hindurch betriebenen Aktion gelegen sind, Aktion ist hier nicht ohne Beziehung zum Aktionismus gebraucht, es handelt sich natürlich um ein Agieren im Sinne des Aktionismus, das hier und in der BRD und auch auszerhalb des deutschsprachigen Rahmens, und meistens mit dem von ihm erwarteten Erfolg, durchgeführt wurde, ein völlig gleichmäsziges lineares und bewuszt sehr beschränktes Agieren, mit immer wieder neuem Material, das immer auf die gleiche Weise den Leuten gereicht wird.
(Friederike Mayröcker, 1981)
„Im November 1978 fuhren Christian Ide Hintze, Michael Schönemann und Alfred Kaiser durch die Bundesrepublik Deutschland, um die Lage zu prüfen. Eines der Ergebnisse dieser Reise war dieser Film. Für seinen Inhalt ist sein Inhalt verantwortlich“, heißt es am Anfang von Zetteldämmerung, einer Zeitkapsel, deren „Inhalt“ sich nach mehr als dreißig Jahren ausmacht wie ein Bericht über eine bessere Zeit. Nahezu mit jedem der Vorbeigehenden, denen Hintze ein Gedicht in die Hand drückt, ergibt sich ein Gespräch oder zumindest eine Interaktion. Es wird darüber gesprochen, „das Intime öffentlich zu machen“; dies sei schwer und werde deswegen „zum Programm erklärt“. Öfter wird das Erlebte resümiert, über den Erfolg oder Misserfolg: Mit geringsten Mitteln wird reportiert und kommentiert, wenn beispielsweise der Ton nahe an Hintze bleibt, Kaisers abschweifender Kamerablick aber etwas ganz anderes, gerade ins Auge Stechendes festhält. Hintze selbst aus ironischer Distanz: „Ich war in der BILD-Zeitung. Ich war in der Bildzeitung! Was für ein Erfolg!“
(Georg Wasner)
Zetteldämmerung
1979
Österreich
85 min